Pokerface

Die Leute in unserer Gegend gelten zu Recht als sehr vorlaut. Ein Paradebeispiel war immer mein alter Jugendfreund Mücke. Gerade in Angelegenheiten der Geschlechterbeziehungen führte er immer eine große Klappe.

Bisweilen aber kollidierte seine große Klappe mit der bösen Realität.

Es war in der Nacht vom sechzehnten auf den siebzehnten Oktober 1982, und wir verfolgten in der Schrebergarten-Laube von Thomas Knolls Eltern die WDR-Rocknacht. Die Laube war ziemlich groß, bewacht von sauber gezogenen Beeten mit allerlei Grünzeug, das man sogar essen konnte. Naja, abzüglich der Sachen, über die sich Spüli kurz vor Mitternacht übergeben hatte, weil der Mariacron, den wir im Küchenschrank gefunden hatten, doch nicht sein Freund geworden war. Schrebergärten sind ja bekanntlich auf Heimaterde, Schweiß und Alkohol aufgebaut.

Little Steven and the Disciples of Soul hatten wir durch, und nach Gianna Nanini waren die meisten gegangen. Es blieben nur noch Thomas Knoll, Matze Danner, Mücke, ich selbst und Carola Rosier, das schönste Mädchen der Schule, übrig. Thomas und Matze hielten sich noch ganz gut, Mücke aber hatte schwer Schlagseite und sich bereits mit einigen Aktionen unbeliebt gemacht. Unter anderem war er aufs Dach geklettert und hatte auf das Wellblechdach der Nachbarlaube gepinkelt, wo ein mit den Knolls befreundetes Ehepaar gerade etwas machte, das sich schwer nach Tierversuchen anhörte. Nackig war der Mann nach draußen gekommen und hatte Mücke gedroht, ihn auf der Stelle totzuschlagen. »Womit denn?«, hatte Mücke gegrölt, »mit dem Bleistiftstummel da?«

Thomas Knoll hatte den Nachbarn mit einer Flasche Aufgesetztem aus den Beständen von Knoll senior beruhigen müssen.

Ich war müde und wollte nach Hause, zumal mich Kid Creole and the Coconuts nicht die Bohne interessierten, aber plötzlich kam Mücke zu mir und meinte: »Ey, Alter, du kannst noch nicht gehen. Wir spielen jetzt ne Runde Strip-Poker. Da hab ich die Rosier in zehn Minuten nackig, und dann nehm ich sie mit nach draußen und zieh die rückwärts durch die Rabatten, ich schwör's dir! Kannst die Zeit nehmen!«

Seit der Klassenfahrt nach Carolinensiel Anfang Oktober war ich mit Nicole zusammen, aber Carola Rosier nackt oder wenigstens in Unterwäsche zu sehen, war eindeutig ein Ziel, aufs Innigste zu wünschen.

Normalerweise stand in der Laube ein kneipenähnliches Ensemble aus Eckbank und schwerem Eichentisch mit gusseisernem »Stammtisch«-Aschenbecher. Heute lagen hier überall Matratzen herum. Ich hockte mich in eine Ecke und nuckelte am für mich letzten Bier der Nacht.

Thomas Knoll hielt die Bank, teilte die Karten aus und malmte Kaugummi. Matze Danner trank Rotwein aus der Korbflasche, Carola hielt sich an Bier. Alle drei sahen sehr ernst und konzentriert aus.

Was man von Mücke nicht behaupten konnte. Showsäufer, der er war, hatte er eine Flasche Wodka neben sich, in der ein langer Strohhalm steckte. Ich schätzte ihn auf mindestens anderthalb Promille. Das sprichwörtliche Pokerface wollte ihm nicht gelingen. Wenn er seine Karten aufnahm, hob er die Augenbrauen, schüttelte den Kopf, grinste breit oder knurrte »Scheiße«. Das machte ihn einigermaßen berechenbar. Zwischendurch warf er Carola Blicke zu und leckte sich die Lippen. Als Antwort streckte sie nur kurz ihren Oberkörper, sodass deutlich hervortrat, was nicht nur Mücke so sehnlich zu sehen wünschte. Allein, sein Spiel war nicht dazu angetan, ihn diesem Ziel näher zu bringen.

Als Kid Creole Annie I'm not your daddy jodelte, hatten Thomas Knoll und Matze Danner gerade mal je einen Schuh ablegen müssen, während Mücke schon im Unterhemd dasaß. Carola hatte noch kein einziges Spiel verloren.

Zu Don't take my Coconuts musste Mücke seine labbrige braune Cordhose ausziehen. Auf seiner weißen Unterhose stand in blauer Schrift Mittwoch, obwohl heute Samstag, beziehungsweise schon Sonntagmorgen war. Mücke nuckelte Wodka durch den Strohhalm und meinte: »Jetzt roll ich das Feld von hinten auf! Zieh dich schon mal warm an, Schwester. Oder besser: aus!« Carola schenkte ihm diesen berüchtigten, schwerlidrigen Blick, der Armeen von Fünfzehnjährigen damals in die sexuelle Verzweiflung getrieben hat.

Es folgte eine kurze Phase der Hoffnung für Mücke, in der Matze und Thomas jeweils ihren zweiten Schuh verloren, aber im Laufe von Kid Creoles fast viertelstündigem Table Manners gab er buchstäblich sein letztes Hemd und saß nur noch in seiner albernen Unterhose da.

Als Mücke das nächste Spiel verlor, hielt die Runde inne. Ich beugte mich vor. Mücke nahm einen tiefen Schluck Wodka und stand auf. Er hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten, schob aber seine Daumen hinter den Gummizug seiner Unterhose und machte lasziv gemeinte Hüftbewegungen. Millimeterweise schob er die Hose hinunter. Und genau in dem Moment, da die Gefahr am größten war, dass man wirklich was zu sehen bekam, sagte Carola: »Lass mal gut sein. Ist besser für uns alle!«

Mücke starrte sie an. Offenbar spielte er mit dem Gedanken, das einfach durchzuziehen. Er war besoffen genug zu glauben, das begehrteste Mädchen der Schule würde nur durch den Anblick dessen, was jetzt noch verborgen war, in erotische Raserei verfallen. Um ihm die Entscheidung abzunehmen, stand Carola auf und ging aufs Klo. Matze Danner und Thomas Knoll schauten angestrengt in unterschiedliche Richtungen.

Zu Stoo! Pigeon half ich Mücke wieder in seine Klamotten und schaffte ihn raus, bevor Carola zurückkam.

Mücke war nicht begeistert. »Wieso schleppst du mich da weg!«, motzte er, als wir durch die Gartenanlage zur Straße gingen. »Die hat mich doch nur gestoppt, weil sie Schiss hatte, dass sie die Kontrolle verliert, wenn ich ihr zeige, was ich habe. Ey, die hätte ich so durchgenommen, die war für den Rest ihres Lebens für andere Kerle verloren gewesen!«

»Ist klar.«

Ich stützte Mücke und half ihm, Stromkästen, Autos und Verkehrsschildern auszuweichen.

»Ist wie im Western, was?«, sagte er irgendwann. »Lass mich einfach hier liegen, ohne mich hast du eine Chance!«

Wir schafften es quer durch die Stadt bis zu seiner Haustür. Am Himmel die zarte Ahnung des neuen Morgens.

»Aber weißt du was?«, sagte Mücke im Hausflur. Er beugte sich vor und flüsterte mir die letzte Weisheit dieser Nacht ins Ohr: »Sex wird sowieso überbewertet! Ich komme ganz gut ohne klar!«

Mit sechzehn kann das nur gelogen sein.

 

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